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Die Russen
Von Ebba von Senger und Etterlin
Eines Morgen wachte ich um fünf Uhr auf: Eine innere Stimme sagte mir: „Fahre sofort auf den Keudellstein und hole das Gepäck der ostpreußischen Verwandten, das dort versteckt ist."
Ich stöberte den kleinen Fritz aus seinem Bett, und mit zwei dicken Pferden vor einem Gummiwagen fuhren wir die zehn Kilometer zum Keudellstein hinauf. Es war das zweite Vorwerk, das zu Schwebda gehörte, und lag in der Provinz Sachsen. Seit Wochen munkelte man, die Amerikaner würden Sachsen und Thüringen den Russen auch noch überlassen.
Im Kuhstall waren ein paar Arbeiter, die uns halfen, die groben Ãœberseekoffer auf den Wagen zu heben. Zum Schluss ging ich ganz all eine durch das schöne, große Renaissancehaus. Es war leer, dennoch dachte ich, was kann ich noch mitnehmen? Dabei fasste ich an die geschnitzten Türen, die bis unters Dach reichten – jede ein Meisterwerk für sich. Sollte ich eine Spitzhacke nehmen? Nachdenklich schritt ich die Treppe mit leeren Händen hinunter.
Der kleine Fritz sah schon ängstlich nach mir. Ein bekanntes Dröhnen lag in der Luft. Dieses Mal aber waren es die Russen. Und sie erschienen in einer selchen Geschwindigkeit, dass, als wir den Hof verließen, sie auf der anderen Seite hineinfuhren. Die Pferde bekamen die Peitsche zu spüren!
Wir mussten vielen Serpentinen hinunter, in denen der Gummiwagen den armen Pferden hinten an die Beine stieß, weil wir ganz verrückt waren vor Angst. Es war der letzte Augenblick für die Flucht gewesen!
Am gleichen Morgen zog unser Schäfer mit fünfhundert Schafen auf den Greifenstein. Keines der Schafe sahen wir jemals wieder, der Schäfer kam nach vier Monaten nach Hause.
Die Grenze wurde gezogen, quer durch unseren Grund und Boden! Der Keudellstein wurde niedergebrannt, doch einige Türen kamen nach Heiligenstadt ins Museum.
Ebba von Senger und Etterlin
(Quelle: Mach’s gut du. Von lichten und auch dunklen Tagen. München: Piper, 1981.)
Zur Autorin
Ebba von Senger und Etterlin, geboren 1923 auf Schloss Wolfsbrunnen bei Schwebda im Kreis Eschwege, entstammt einer alten Familie hessischer Landedelleute. Durch ihre Mutter, eine Hofdame der letzten Kronprinzessin von Preußen, fand sie als Kind noch Zugang zur versinkenden Welt der Monarchie. Über ihre Großmutter aus der Industriellenfamilie Henschel verwob sich ihre Familiengeschichte mit der des deutschen Großbürgertums. Ihre Kindheit verbrachte sie auf dem Lande, wurde dann auf Internatsschulen in Berlin und Oberbayern erzogen, erlebte als junges Mädchen den Untergang der alten Welt und den bald darauf folgenden Untergang der Scheinwelt des Tausendjährigen Reiches. Die Autorin ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.
Anmerkung
Es ist eine seltsame Fügung, dass von Frau Senger und Etterlin nach der Enteignung ihres Familienbesitzes – des Rittergutes Keudelstein – in jenen kleinen Schwarzwaldort zog, in dem auch die letzten Pächter des Gutes – Familie Rhode – eine neue Heimat gefunden hatten. Beide Familien waren über diesen schicksalhaften Umstand sehr erfreut und sprachen bei jeder Gelegenheit von den gemeinsamen Erinnerungen an jenen Ort, der einst ihr Leben prägte.