Gut Keudelstein

- Eine Erinnerung an meine liebe Schwester Liselotte -

(geboren zu Magdeburg am 6. August 1909)
(verstorben zu Magdeburg am 28. August 1923)

In den ersten drei Monaten meiner Einsamkeit war es mir zur lieben Gewohnheit geworden, während der Dämmerstunde mich in betrachtender Erinnerung in die Vergangenheit zu versetzen. So entführte mich am Abend des Himmelfahrtsfestes mein inneres Sinnen ganz ohne Vorsatz aus der düsteren Zelle zurück in die Knabenzeit.

Es war im Juli 1923. Wir fuhren damals mit unseren Eltern nach Lengenfeld unter dem Stein, auf dem Eichsfelde. Dort wollten wir in einem schönen Erholungsheim, das von frommen Nonnen geleitet wurde, die Sommerferien verbringen. Unsere Schwester Liselotte war damals 14 Jahre alt, Wernerfritz war 9 Jahre, unser Nesthäkchen Ulli (Ursula) nicht ganz 5 Jahre und ich stand vor meinem 11. Geburtstag. Noch am Nachmittage der Ankunft machten wir gemeinsam einen ersten Waldspaziergang zu einer nahe gelegenen Grotte. Auf dem Wege dorthin klagte Liselotte über drückende Schuhe. Das reizte unseren Vater zu der unwilligen Bemerkung: "Solche neuen Schuhe darf man eben auf Wanderungen nicht anziehen!”

Am Abend stellte sich die wahre Ursache der Schmerzen heraus: Es war ein Anfall von Gelenkrheumatismus, an dem unsere arme Schwester bereits seit ihrem 7. oder 8. Lebensjahr litt. Wieder zu Hause, hatte sich die Ärmste sofort legen müssen - um in diesem Urlaub nicht wieder aufzustehen. Dem Erholungsheim war ein Krankenhaus zugegliedert, sodass es an ärztlicher Hilfe und Pflege durch treue Schwestern nicht mangelte.

Bald lag Liselotte in einem Einzelzimmer. Wir Kinder durften sie immer nur für kurze Zeit besuchen. Trotz allem machten unsere Eltern damals mit uns noch manchen Ausflug, auch mal gemeinsam mit Gästen, mit denen sie sich bei der Mittagstafel angefreundet hatten.

Besonders entsinne ich mich einer Wanderung nach dem einige Stunden entfernten Städtchen Wanfried an der Werra. Es war ein sehr heißer Julitag. Unterwegs erfrischte uns köstliche kühle Buttermilch auf dem Gut Keudelstein. Von diesem stattlichen Bauernhof stammen nämlich Vorfahren unserer lieben Mutter (deren Mutter, meine Großmutter Maria Barbara Grebing, war eine geborene Keudel, * ~1850, † 1911). Noch deutlich sehe ich auf dem langen Heimweg, der bei dieser Gluthitze teils durch reifende Felder führte, unsere Ulli vergnügt auf den Schultern des hemdsärmeligen Vaters reiten und ihm dabei verschmitzt mit einem Taschentuch den perlenden Schweiß von Stirn und Glatze wischen. An diesem, wie an manch anderem Ausflug hat auch unsere liebe Mutter teilgenommen.

Aber als Liselottes Krankheit immer ernster wurde, blieben abwechselnd Mutter und Vater an ihrem Bett. Und zu Ende des Urlaubs mussten wir unsere Schwester im Lengenfelder Krankenhaus allein zurücklassen. Denn wir glaubten, ihr Zustand lasse die beschwerliche Reise nicht zu.

Man kann sich denken, in wie großer Unruhe und Sorge um unsere schwerkranke Schwester die liebe Mutter lebte, als wir nach Magdeburg zurückgekehrt waren (trotzdem sich die Eltern täglich nach ihrem Befinden telefonisch erkundigten). Die Krankheit verschlimmerte sich ständig. Endlich entschloss sich unser Vater schweren Herzens, das leidende Kind nun doch nach Hause zu holen. Der Transport erfolgte, in Betten verpackt, mit der Eisenbahn in der 2. Klasse (die Deutsche Reichsbahn führte damals noch 4 Klassen). Was muss das arme Kind ausgehalten haben, besonders beim Umsteigen! Die Krankheit war ja so schmerzhaft, dass Liselotte schon laut klagte, wenn nur jemand ihr Deckbett anrührte.

Wolfgang Schade (* 28.9.1912/Magdeburg, + 23.12.2007/Winterbach)
(von ihm selbst aufgezeichnet in Erfurt am Feste Christi Himmelfahrt, 18.5.1950)

Anmerkung:
Dieser Text fand sich in einem unbeachteten vergilbten Typoskript aus dem Nachlass meiner verstorbenen Schwester Gunhild Abendroth (1941-2004). Unser Vater hatte ihn wahrscheinlich mit Bleistift in seiner kleinen sorgfältigen Schrift auf kostbare Papierfetzen im Gefängnis gekritzelt. Die konnte er Mutti nach draußen zukommen lassen. Sie hat das dann abgetippt. Von Liselottes Leidenszeit erzählte Vati immer wieder, bis zuletzt. Aber von der Existenz des Gutes Keudelstein war niemals die Rede. So hat sich endlich doch ein Blick in die Generation seiner mütterlichen Urgroßeltern Keudel eröffnet. Und welche Überraschung: auch sie stammten, ebenso wie die Schades, aus dem Eichsfeld. Zwei Fotos um 1915 konnten auf Grundlage dieses Textes eindeutig der Milchverarbeitung Gut Keudelstein zugeordnet werden.

Reinhart Schade
(14558 Rehbrücke bei Potsdam, am 4. Advent 2004)