Die Damen vom Keudelstein

Paul Julius Kockelmann

Von Paul J. Kockelmann

Keudelstein - Eingangsportal1978 hatten zwei Männer aus Heiligenstadt im Grenzgebiet zu tun, nahe bei einem alten Herrensitz, dem Keudelstein. Die beiden, Hermann-Josef Kaufhold und Gerhard Jünemann, waren bei der Wasserwirtschaft tätig und durften sich deshalb ganz nahe an der Grenze aufhalten, was sonst kaum einem erlaubt war. Vom Keudelstein wussten sie, dass der Bekennerbischof Konrad Martin sich im Kulturkampf dort kurze Zeit verborgen hatte. Sie hatten auch gehört, dass man das Anwesen schleifen wollte, um eventuellen „Grenzverletzern" keine Orientierungsmöglichkeit zu geben.

Der eine von ihnen stammte aus einem Dorf der Umgebung und kannte die Gegend aus seiner Kindheit. Er erinnerte sich auch, dass die herausragende Hauskapelle außen von zwei Halbreliefs geschmückt war. Die Figuren waren mit Waage und Schwert ausgerüstet und stammten aus einer Zeit, in der der Amtmann auf dem Keudelstein eine gewisse Gerichtsbarkeit ausgeübt hatte. Die beiden „Damen" waren inzwischen 300 Jahre alt.

In die Nähe gekommen, sahen sie, dass die Abbrucharbeiten in vollem Gange waren. Man kam mit dem Grenzkommando ins Gespräch, wie das so ist, wenn man sich in menschenleerem Gebiet trifft, und schließlich mussten sie sich ja auch als „aufenthaltsberechtigt" ausweisen. Nach einigem Herumschauen sahen sie die Kunstwerke abseits liegen.

„Was passiert denn mit dem Zeug?", fragte einer der beiden, bewusst untertreibend. „Will sich einer von den Chefs auf seiner Datsche aufstellen", meinte der Leutnant. „Ist aber schade, müsste doch besser der Allgemeinheit zukommen. Gebt sie uns mit, wir garantieren einen guten Platz." Der Leutnant, dem der Abriss des Anwesens offensichtlich auch nicht behagte, zeigte sich sehr wohlwollend. „Könnt ihr die denn überhaupt wegschaffen?" „Das lass mal unsere Sorge sein, das packen wir schon."

Wie gut, dass die beiden Zugang zu schwerer Technik hatten. Die Genehmigung zum Abtransport wurde erteilt, was umso erstaunlicher war, als doch sonst „nachgeordnete Organe" nichts ohne Rückversicherung zu tun pflegten. So kamen die beiden zum Propst von Heiligenstadt und fragten, ob es eine Verwendung für die überlebensgroßen Halbreliefs gäbe.

„Auf alle Fälle erst mal retten. Und am besten gleich auf den Rasen am Kirchplatz legen. Dann sehen wir weiter." Der genaue Stellplatz musste ja erst überlegt werden. Eine Außenmauer der gotischen Kirche böte sich an, würde mehr Halt geben als eine freie Aufstellung. Andererseits stand die Frage, ob der Buntsandstein so günstig zum Muschelkalk passte, aus dem die Figuren gehauen waren.

Schließlich wurde mit dem Kirchenvorstand ein Standort in dem parkähnlichen Gelände vor der Liebfrauenkirche vorgesehen, gut eingeordnet und so, dass die Gestalten Rücken an Rücken standen und von dem nahen Weg aus gut bemerkt werden konnten. -Aber noch war es nicht so weit. Die Figuren müssten auf einen Sockel, und der sollte mit Platten verkleidet werden. Man hatte zwar eine kirchliche Baubrigade und die Hilfe eines Architekten. Der Steinmetz wohnte in einem der Dörfer und war durchaus bereit, die Arbeit zu übernehmen. Aber er hatte auch seine Auflagen und konnte sich für den „Privaten" Zeit lassen.

So bekam der Propst nach geraumer Zeit Besuch von Vertretern des Kreises, mit denen er öfter zu tun hatte und meist als Bittsteller in allen möglichen Erlaubnissen sprach, von Zuzugsgenehmigungen ins Sperr¬gebiet bis hin zum Import von Orgeltischen. Diesmal aber hatten die Herren selbst ein Anliegen, oder genauer: einen massiven Vorwurf. Man hätte sich Staatseigentum unter den Nagel gerissen und die Figuren auf dem Kirchplatz vom Keudelstein entführt. Das sei ja nur mit Helfern möglich gewesen. Man wolle die Sache möglichst gütlich beilegen. Aber man müsse eventuell auch mit einem Prozess rechnen. Dem Propst kam die Vorstellung von den beiden Schwergewichten unter einem Finger¬nagel zwar etwas irreal vor, aber Redewendungen auf ihren Sinngehalt zu prüfen, dafür war jetzt keine Zeit.

„Von einem Prozess würde ich abraten", lächelte der Propst. „Es könnte sonst die Frage aufkommen, wer seine Aufsichtspflicht vernachlässigt habe. Schließlich sind die Dinge sozusagen aus dem Schutt geborgen worden. Wir wollen sie nicht haben, es geht uns nur um Bewahrung von Kunstgut, an dem Sie doch auch immer so großes Interesse bekunden. Die Fehler, die man bei der Universitätskirche in Leipzig gemacht hat, sollten endgültig vorbei sein. Suchen Sie sich einen günstigen Platz aus, dann können Sie sie dort gut und gerne aufstellen."

Es tat sich aber nichts weiter in der Sache. Und so kam dann doch noch der Tag, an dem man mit vereinten Kräften die beiden Schwergewichte auf den Sockel heben konnte. Dabei bewunderten alle die Leistung des Kranfahrers, der sie präzise bis auf den Zentimeter platzierte. „Damit hättest du bei ‚Wetten, dass...’ auftreten können." Das war das schönste Kompliment, das man ihm machte.

Der erfreuten Gemeinde wurden die neuen Errungenschaften als die Tugenden der Gerechtigkeit und Tapferkeit vorgestellt. In der Kunst werden die Tugenden oft als Frauengestalten dargestellt. Die Gerechtigkeit mit der Waage schaut hier auf den ankommenden Kirchenbesucher. Schließlich soll man nicht nur aus augenblicklicher Lust zum Gottesdienst gehen: Wer Gott die Ehre gibt, erfüllt eine menschliche Pflicht der Gerechtigkeit Gott gegenüber. Und wer aus der Kirche kommt und sein Tagwerk aufnimmt, bedarf der Tapferkeit, um das Wort Gottes im Alltag zu verwirklichen. Diese neue Sinngebung schien erlaubt.

Mit Staunen und Schmunzeln hörte man später bei Stadtführungen, die Figuren seien aufgestellt worden zum Gedenken an die Predigten, die Thomas Müntzer vor der Liebfrauenkirche gehalten hatte. Inzwischen wird diese Geschichtsklitterung nicht mehr tradiert. Aber die Damen vom Keudelstein bleiben ein Schmuck im Stadtbild und eine Freude, nicht nur für ihre beiden Retter.

Paul J. Kockelmann
(in: Marienkalender für das Bistum Erfurt. Jahrgang 2000. Heiligenstadt: Cordier.)