Die Keudelskuppe

Original-Artikel der „Heiligenstädter Zeitung“ aus dem Jahre 1886

Autor unbekannt

Fast keine Gebirge in Deutschland werden so häufig besucht, als der Harz und Thüringer Wald; jährlich reuen Tausende dorthin, um sich an den schönen Aussichten und Merkwürdigkeiten der Natur zu erfreuen und um neue Kraft für ihre Berufsgeschäfte zu sammeln. Doch, lieber Eichsfelder, hast du Freude an Naturschönheiten, so schweife nicht in die Ferne, denn dir liegt das Gute ja so nahe. Statt weite Reisen zu unternehmen, ziehe es vor, einen schönen Punkt deiner Heimath zu besuchen und manche interessante Stelle in Augenschein zu nehmen.

Südlich von Geismar, etwa ¾ Stunden von diesem Orte entfernt, liegt beispielsweise die Keudelskuppe: sie verdient es mit Recht, ihr einen Besuch abzustatten. – Die Keudelskuppe ist der höchstgelegenste Punkt des südlichen eichsfeldischen Plateaus: erschrecken brauchst du aber darüber nicht, denn ein schöner Weg (laut Veranlassung des Herrn Rittergutsbesitzers Martin angelegt), führt dich bequem auf die 1250 Fuß hohe Anhöhe. Die Aussicht von ihr ist zwar etwas beschränkt, aber schön, malerisch, bezaubernd. Ein kleiner Raum entfaltet mit seinen zahlreichen von idyllischen Waldeszauber umflossenen Thalgründen eine Fülle der schönsten Naturscenen. Liebst du sanfte Schönheiten der Natur, so findest du hier die volle Befriedigung. Von keinem anderen Punkte ist der Blick in das liebliche Werrathal, das seine Wiesen zu beiden Seiten des Flusses zwischen den schön bewaldeten Bergabhängen ausbreitet, so anmuthig, denn gerade in dieser Gegend ist sein Wiesengrund am fruchtbarsten.

Die freundlichen Städtchen Treffurt, Wanfried, Eschwege und zahlreiche Dörfer, in der Mitte schöner Fluren und blühender Wiesen liegen vor deinen Füßen, und unwillkürlich öffnet sich dein Mund zu einem – Ach welch eine reizende Gegend! – Nach Süd-Ost ist die Aussicht am schönsten; wie auf einem Gemälde übersiehst du mit einem Blicke eine Menge Berge, die am Fuße mit Obstbäumen, höher hinauf mit Waldungen bepflanzt sind. Sanfte Abhänge, mit freundlichen Laubwäldern, selten düsteren Nadelholz geziert, ergötzen neben fruchtbaren Äckern und Wiesen dein Auge.

Überraschend wechselt hier aber auch das Sanfte mit dem Wilden und das Angenehme mit dem Rauhen ab, denn die jähen Felsenabhänge der Plesse gähnen dir wild entgegen, so daß du schnell einen forschenden Blick zu deinen Füßen sendest, ob du dich nicht auch vielleicht an einem solchen Abgrunde befindest.

Auch sei hier erwähnt, daß es dem Werrathal-Verein ganz besonders zum Lobe gereicht, durch Erbauung eines Thurmes die Aussicht bedeutend erweitert und verschönert zu haben. Überhaupt wissen die Bewohner Wanfrieds so wie der Umgegend die herrliche Aussicht von der Keudelskuppe eher zu schätzen, denn im Sommer, besonders am zweiten Pfingsttage kommen sehr viele hierher, um sich zu vergnügen, da nicht nur die Natur einen hohen Genuß gewährt, sondern auch ein Wirth aus dem Nachbardorfe für Bequemlichkeit und Unterhaltung sorgt. Bei Treffurt erscheint dir der Heldrastein (Hellerstein).

In der Ferne aber erblickt dein spähendes Auge den Thüringer Wald, der dir mit seinen zahlreichen schön gerundeten Gipfeln (Inselsberg, Beerberg, Schneekopf), felsigen Kuppen und muldenförmigen Vertiefungen einen malerischen Anblick darbietet. An der Grenze des Gesichtskreises taucht selbst das Rhöngebirge auf. Nachdem du auch die Boyneburg bewundert, wird im Westen dein Blick von den hessischen Bergen gefesselt; ganz besonders ist es hier der Meißner, der die übrigen Berge bedeutend überragend, deine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nach Norden ist, wie schon im Eingange bemerkt, die Aussicht nicht so lohnend, weil die höher gelegenen Berge bei Küllstedt, Wachstedt und Effelder dieselbe verhindern, doch wirst du, nachdem du der herrlichen Landschaft noch einen letzten Scheidegruß zugeworfen, vollständig befriedigt, deine Schritte zu dem hart am Waldesrande liegenden Rittergute Keudelstein lenken.

Außerordentlich zahlreich war der niedere Adel im Eichsfelde; kein Wunder also, wenn wir auch gerade hier so viele kleinere Schlösser und Burgen antreffen. Manche solcher Burgen können wir noch jetzt mit ihren Fenstern und Dächern im Sonnenschein blinken sehen; andere stehen trüb und traurig als Ruinen da; zerfallene Dächer, öde Fensterhöhlen und verwitterte Thürme zeugen uns noch von der längst verschwundenen Herrlichkeit; die meisten aber sind ganz von der Erde verschwunden und Tannen wurzeln aus ihrem Grunde.

Das Schicksal der Letzteren theilte auch die ehemalige stolze Beherrscherin des Werrathales auf der Keudelskuppe; es ist als ziemlich sicher anzunehmen, daß in grauer Vorzeit auf der Keudelskuppe die sogenannte Keudelsburg gestanden. Berg und Burg tragen den Namen von dem adeligen Geschlechte von Keudel, welches hier seinen Sitz hatte. Der Erste, von dem sich in der Geschichte des Eichsfeldes etwas vorfindet, ist Buttlar von Keudel, der zur Zeit Rudolfs von Habsburg auf dem Eichsfelde Lehengüter erhielt.

Die Keudel‘schen Besitzungen erstreckten sich aber nicht etwa bloß auf die nächste Umgegend des Keudelsteins, sondern auch in Wanfried befand sich ein Keudelschloß, in Geismar eine Keudelswiese, in Schwebda (Kr. Eschwege) ein großes Öconomiegut, dessen Besitzer noch heute diesen Namen trägt. Das ganze Dorf Hildebrandshausen war ein Keudel‘sches Gerichtsdorf. Auch eine Straße in Lengenfeld (die Keudelsgasse) und Theile der Lengenfelder und Geismar‘schen Feldflur waren dem Keudelstein zins- und lehnspflichtig.

Als im Jahre 1381 der Hilfensberg mit Bebendorf an das Kloster Anrode käuflich überging, war ein gewisser Apel von Keudel Zeuge dieser Verhandlung. In der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts entstand ein Streit zwischen den von Keudel, dem Kloster Anrode und den Beamten auf dem Bischofstein wegen des Stand- und Faßgeldes auf dem Hilfensberge. Bei der Entscheidung war das Zeugniß 4 alter Männer, welche bis zum Jahre 1349 zurückdenken konnten, maßgebend: in Folge dessen wurden die von Keudel mit ihren Ansprüchen zurückgewiesen.

An der Stelle, wo jetzt das Rittergut liegt, befand sich vor 400 Jahren das zur Keudelsburg gehörende Dorf Kubsdorf. Nachdem dieses zerstört, baute später Bernd von Keudel an dessen Stelle das drei Stock hohe Wohnhaus des jetzigen Rittergutes. Durch die Heirath eines Frl. von Keudel kam Döringsdorf an Asmus von Buttlar und von diesem an den Landgrafen Philipp den Älteren von Hessen, demnach war auch es früher Keudel‘sches Lehnsdorf. 1583, den 8. September, vertauschten die Landgrafen von Hessen dieses Dorf an den Kurfürsten Wolfgang von Kurmainz: von selbiger Zeit an gehörte es zum Amte Bischofstein und war der letzte Ort, welcher an das Eichsfeld gekommen.

Der letzte des adeligen Geschlechtes von Keudel (Walrab von Keudel) starb im Jahre 1792 und Mainz nahm von den Keudel'schen Lehen Besitz. Man erzählt: Als der Letzte von Keudel die Augen geschlossen, hätte der Richter Löffler sich die Hausschlüssel angeeignet, von den Ecksäulen des Hauses Späne abgehauen und sie auf dem Hofe, als Zeichen der Besitzergreifung für den Kurmainzischen Staat, verbrennen lassen. Kaum sei dieses geschehen, so wäre der namensverwandte Herr von Keudel aus Schwebda (der das Ableben desselben von einer Frau aus Lengenfeld erfahren) eilig geritten gekommen, um das Gut für sich zu gewinnen; doch es war zu spät.

In den Freiheitskriegen wurde das Gut auf sonderbare Weise von einem feindlichen Überfalle verschont. Ende October 1813 beabsichteten Kosaken an einem finstern Abend einen Ritt von Lengenfeld nach Wanfried. In dem Wäldchen „Im Schlage“, ungefähr 1000 Schritt vor dem Keudelstein, ergriff aber plötzlich der mitgenommene Führer, der die Laterne trug, die Flucht. Die feindlichen Soldaten irrten nun umher, bemerkten aber endlich ein Licht und kamen nach vieler Anstrengung über Länder, Wiesen, Sümpfe und Bäche in die Entenmühle, woselbst sie nach vielem Lärmen, Toben und Fluchen durch Wuttki und Kabuster (Schnaps und Sauerkraut) wieder zur Ruhe gebracht wurden.

Als das Eichsfeld an Preußen kam, wurde der Rittmeister von L‘Estocq Besitzer des Rittergutes, welcher es anfangs der vierziger Jahre an die Oeconomen Martin und Lorenz verkaufte. Wer den Keudelstein vor 30 Jahren gesehen, wird ihn jetzt kaum wieder erkennen, denn die westlich gelegenen fiskalischen Waldgrundstücke sind gegen andere umgetauscht und in Ackerland verwandelt worden, dadurch hat das Gut an der freien Aussicht viel gewonnen. Auch hat der jetzige Besitzer Herr Martin die früher kaum passierbaren Wege chausseemäßig ausgebaut und in jüngster Zeit sind Promenaden mit Erholungs-Punkten am Saume der Keudelskuppe angelegt, welche die romantische Gegend noch verschönern. Schließlich sei noch erwähnt, dass vor ungefähr 12 Jahren selbst der rühmlichst bekannte Staatsmann Robert von Keudell, Botschafter des deutschen Reiches in Rom, seinem alten Familiensitz einen Besuch abstattete. Seine Vorfahren sind vor 200 Jahren vom Keudelstein nach Ostpreußen übersiedelt.

Autor unbekannt
(Quelle: Heiligenstädter Zeitung [Kreis-Anzeiger] und Dingelstädter Anzeiger vom 22.07.1886 und vom 27.07.1886)