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Gerechtigkeit vom Keudelstein
Wie zwei Männer "Gerechtigkeit" retteten und sie nach Heiligenstadt kam
Von Ernst Beck
Vom Altstädter Kirchplatz vis-á-vis der Propsteikirche "St. Marien" in Heiligenstadt sind die beiden Reliefsteinplatten, die Fremden oft ein Rätsel aufgeben, im Zuge der Außensanierung der Liebfrauenkirche vor etwa anderthalb Jahren umgezogen. Beide Figurentafeln, zuvor zusammengefügt zu einer Art Stele, flankieren - nun erneut als Einzelstücke - den oberen Eingang zum ehemaligen Jesuitenkolleg unweit des wieder geöffneten Südportals der Kirche. Die eine Figur hält ein Schwert, die andere eine Waage in der Hand - Symbole für Rechtssprechung und Gerechtigkeit.
Wie Wächterfiguren stehen sie hier. Doch weder wie jetzt Jesuitenkolleg noch vorher der Kirchplatz sind ihr angestammter Ort. Die Kirchengemeinde und der damalige Bischöfliche Kommissarius des Eichsfeldes, Propst Paul J. Kockelmann, boten 1978 beiden Steinplatten gewissermaßen Asyl, retteten sie für die Nachwelt. Dass die Reliefplatten nicht im Schutt des abgerissenen Gutes Keudelstein untergebaggert wurden oder in privaten Gefilden verschwanden, ist aber in erste Linie der Rettungstat von zwei Heiligenstädtern, den damaligen Mitgliedern der Pfarrgemeinde und Mitarbeitern der Wasserwirtschaft Gerhard Jünemann, heute Verwaltungschef des MCH, und Hermann-Josef Kaufhold zu verdanken.
Beide Steinbildnisse zierten einst den Eingang zum Hauptgebäude vom unweit des Dorfes Hildebrandshausen gelegenen Rittergutes Keudelstein, deren Herren Jahrhunderte lang hier lebten und von denen einer, Reinhard Keudel, 1351 Pfandbesitzer der nur wenige Kilometer entfernten Burg Bischofstein war. Von 1669, so Walter Rassow in seiner "Beschreibenden Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Heiligenstadt", stammte das Herrenhaus. Rassow verweist auch auf die beiden Figuren: Die Karyatiden, die beide die Sinnbilder der Gerechtigkeit in den Händen halten, deuten vermutlich auf richterliche Funktionen des Erbauers hin.
Kaufhold, in Hildebrandshausen aufgewachsen, kannte das Rittergutportal samt Figuren aus Kindheitstagen. Wie sehr musste es ihn geschmerzt haben, als er 1978 das historische Gebäude in Trümmern sah. Auf Befehl der Grenztruppenführung in Berlin wurde das altehrwürdige Haus geschleift, damit es nicht eventuellen Republikflüchtlingen oder Verletztern der Staatsgrenze Unterschlupf gewähren konnte. Solchem Wahnwitz wurde ein wichtiges Zeugnis Eichsfelder Adelsgeschichte geopfert. Kaufhold und Jünemann hatte ein Arbeitsauftrag des Wasserwirtschaftsbetriebes just zu der Zeit hierher geführt, als die Abrissarbeiten liefen. Dabei entdeckten sie auch die beiden Figuren. Beide konnten den die Abrissarbeiten leitenden Offizier überzeugen, dass die zwei Steinreliefplatten Kunstwerke und Allgemeingut seien und nicht, wie sie von diesem gehört hatten, in einer Datsche eines höheren Offiziers verschwinden sollten.
Daran wie die beiden "Damen vom Keudelstein" nach Heiligenstadt kamen, erinnert Propst Kockelmann in seiner gleichnamigen Erzählung im Marienkalender des Jahres 2000. Kaufhold und Jünemann schafften die beiden Reliefplatten nach Heiligenstadt zum Propst. Zunächst lagerten sie auf der Rasenfläche bei der Marienkirche. "Schließlich wurde mit dem Kirchenvorstand ein Standort in dem parkähnlichen Gelände vor der Liebfrauenkirche vorgesehen, gut eingeordnet und so, dass die Gestalten Rücken an Rücken standen", schreibt Kockelmann. Aber damit war der Umzug der Keudelstein-Figuren nicht abgetan. Vertreter des Rates des Kreises Heiligenstadt rückten an, warfen Propst und Propsteigemeinde quasi Diebstahl vor. Sie hätten sich "Staatseigentum unter den Nagel gerissen und die Figuren vom Keudelstein entführt". Das werde ein Nachspiel haben, gar vor Gericht.
Doch es wäre nicht Paul J. Kockelmann, hätte er in dieser brenzligen Situation nicht mit der ihm eigenen Schlagfertigkeit pariert. Von einem Prozess sei doch wohl abzuraten: Es könne ja sonst die Frage aufkommen, wer seine Aufsichtspflicht vernachlässigt habe. Schließlich seien die Figuren aus dem Schutt geborgen worden. Gern könne der Kreis die beiden Platten mitnehmen, sie auf günstigerem Platz aufstellen. "Es tat sich aber weiter nichts in der Sache. Und so kam dann doch noch der Tag, an dem man mit vereinten Kräften die beiden Schwergewichte auf den Sockel hob", schreibt Kockelmann weiter.
Kaufhold und Jünemann dürften in jenen Tagen sicherlich manche schlaflose Nacht gehabt haben, mussten doch auch sie mit dem Schlimmsten rechnen. Sie hatten Glück wie die beiden Reliefplatten, die gerettet zu haben, ihnen zuvörderst, sie verteidigt zu haben, Altpropst Kockelmann die Ehre gebührt.
Ernst Beck
(in: Thüringer Landeszeitung, Ausgabe vom 30.01.2004)