Zeittafeln
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Der Keudelstein
Von Heinrich Lücke
Vom Tale der Frieda windet sich die Straße unter stetiger Steigung über Döringsdorf nach dem einsam zwischen den Bergen liegenden, dem Herrn von Keudell auf Schloss Wolfsbrunnen gehörigen Rittergute Keudelstein. Der Hülfensberg schaut stumm aus nächster Nähe herüber, als ich auf dem angegebenen Wege mich dem Keudelstein nähere. Will denn die immer noch steigende Straße gar kein Ende nehmen? Doch, endlich senkt sie sich zu dem im Grunde liegenden Gehöft, dem die Einsamkeit im Laufe der Jahrhunderte ein vertrauter Weggenosse wurde. Eine stattliche, in baulicher Hinsicht in bester Verfassung befindliche Hofanlage, wie man sie nicht oft antrifft, liegt vor mir.
Sie erhebt sich auf einem Boden reicher geschichtlicher Erinnerungen. Der Vorläufer des heutigen Gutes war die einst auf der nahen Keudel-Kuppe stehende, heute wüste Burg Keudelstein, deren Stätte vor einigen Jahrzehnten wieder freigelegt wurde. Bei dieser Gelegenheit ergab sich wie beim Rusteberge das Vorhandensein einer Vorburg. Die ganze Anlage hatte einen eiförmigen Grundriss. Nach den schwachen Grundmauern zu urteilen, war die Burg größtenteils aus Fachwerk aufgeführt. Ein Saal konnte in der Ausdehnung 9,12 x 7,50 Metern festgestellt werden.
Südlich von dem Berge Keudelstein führt der auf der Grenze der Kreise Heiligenstadt und Mühlhausen meist sehr schroff zur Werra abfallende Bergrücken den Namen Plesse. Diese Bezeichnung trägt neben der Benennung Junkerholz auch der früher in seiner ganzen Ausdehnung mit dem Gute Keudelstein verbundene, jetzt zwischen diesem und der Gemeinde Hildebrandshausen geteilte und bis an die hessische Grenze reichende Forst. Ein am Südwesthange des Berges in der Gemarkung von Wanfried gelegenes Einzelgehöft führt denselben Namen. Dürftige Spuren von Ansiedlungen finden sich nordöstlich des Forstortes Plesse (Junkerholz), und nördlich davon sind auch in den Fluren von Hildebrandshausen und Döringsdorf solche Spuren in den Feldgegenden Petersgrund und Teufelskutte festgestellt worden. Wie der Volksmund behauptet, trug die auf der Keudelskuppe gelegene mittelalterliche Burg den Namen Plesse. Die umherliegenden Steinbrocken scheinen diese Meinung zu bestätigen. Diese Bezeichnung rührt vielleicht aus der Zeit, als die Edelherren der Burg Plesse im Leinetale zwischen Göttingen und Northeim als mainzische Vögte auf dem Bischofstein saßen. Im Jahre 1312 versprach der Ritter Engelbert von Hardenberg den bis zu Johannis zwischen ihm und dem Rate zu Mühlhausen geschlossenen Waffenstillstand „de Castro Plesse" getreulich zu halten.
An der Stelle des heutigen Rittergutes Keudelstein lag ehemals die Ortschaft Kubsdorf. Der Ort wurde erst nach seinem Eingehen bekannt, als bereits das genannte Gut an seine Stelle getreten war. Wahrscheinlich war Kubsdorf gleich dem benachbarten Döringsdorf ein Teil des hessischen Amtes Wanfried und gelangte erst durch den Vertrag vom 8. September 1583 an Mainz.
Das Gut Keudelstein ist, wie bereits bemerkt, heute noch im Besitze der gleichnamigen Familie, nachdem es zeitweise in anderen Händen war. Bereits im Jahre 1531 finden wir Reinhard Keudell als einen der ersten Pfandbesitzer des Schlosses Bischofstein. Einer von seinen Nachkommen, Berit Keudell, baute an der Stelle des 1552 als Wüstung genannten Ortes Kubsdorf das Rittergut Keudelstein auf.
Das Keudellsche Gericht hatte anscheinend seinen Sitz in Hildebrandshausen, wohin früher auch wohl Döringsdorf gehörte. Das Gericht war im 16. Jahrhundert der Gegenstand eines langen Streites zwischen dem Erzbischof von Mainz und denen von Keudell, der durch den Vertrag von 1586 sein Ende fand. Nach diesem erhielt Berit Keudell, der Statthalter der hessischen Landgrafen, durch den Kurfürsten Wolfgang von Mainz aus Gnaden die Hälfte der peinlichen Gerichtsbarkeit in Hildebrandshausen. Es ist möglich, daß das Gericht aus einem älteren entstand. In der Nähe des Keudelsteines gab es die „Centsteine". Das „Vokemal", das in der Nähe gelegen haben muss, scheint eine solche Stätte gewesen zu sein. Nach dem im Jahre 1792 erfolgten Tode Walrabs von Keudell nahm das Mainzer Stift die Besitzungen des Verstorbenen, darunter Keudelstein und Hildebrandshausen, in Besitz und vereinigte das Gericht mit dem des Bischofsteiner Vogtes. Eine Feldgegend am Forstorte Dünberg heißt noch heutzutage der Galgenrain.
Der jetzige, wohl teilweise aus den Steinen der alten Burg erbaute Rittergutshof weist ein stattliches Wohnhaus von 1669 und neue Wirtschaftsgebäude auf. Man muss sich wundern, dass so bald nach dem Dreißigjährigen Kriege so schöne Häuser gebaut werden konnten. Doch stammte die Frau des Erbauers Sebastian von Keudell aus einer wohlhabenden und kunstverständigen Familie Süddeutschlands. Das alte Herrenhaus ist im Winkel aufgeführt.
Dem westlichen Flügel ist in späterer Zeit ein Küchenanbau im Stile des Hauptgebäudes angegliedert worden. Das untere Stockwerk ist massiv. Dagegen sind die beiden oberen Geschosse in zierlichem Fachwerk erbaut. Der auf der Ecke sich erhebende Erker ist in origineller Weise durch zahlreiche Gesimsauskragungen über eine Dreiviertelsäule vorgebaut und war früher wohl durch ein Zeltdach abgeschlossen. An dessen Stelle findet sich jetzt ein formloses Notdach. Das im einspringenden Winkel liegende Portal ist von ziemlich grober Arbeit.
Die beiden Figuren, die Sinnbilder der Gerechtigkeit in den Händen haltend, deuten vermutlich auf die richterliche Tätigkeit des Erbauers hin. Die Wappen enthalten links die Schweinshauer (von Keudell) und rechts eine Sichel (von Lüder). Unter der Mitte befindet sich ein Christuskopf und die Jahreszahl 1669. Das von zwei Engelsfiguren gehaltene Flugband trägt die Inschrift: „GEORG SEBASTIAN V. KEUDEL SCHWEBDE X ANNA ELISABETHA V. LÃœTTER". In der Ecke ist jetzt ein jugendlicher, bekränzter Bacchuskopf angebracht, der früher einer Gestalt über dem Kellereingang angehörte. An einem Fenstersturze des Erdgeschosses lesen wir die Buchstaben V L. Sie bedeuten den Namen von Lestoque, eines französischen Würdenträgers, der seiner Zeit von Jerome, dem König von Westfalen, mit Keudelstein belehnt wurde.
An der Diele des Hauses liegen die Treppen zum Keller und zu den Obergeschossen. Auf dieser Diele sind alte steinerne Kamine von Interesse, deren gerade Stürze von Konsolen und zierlichen Säulen getragen werden. Die Diele des oberen Stockwerkes wies bis ca. 1920 noch alten Gipsestrich auf. Der hier stehende Kamin trägt die Jahreszahl 1671. Auch die Dielen der beiden Obergeschosse haben einen Kamin, so dass die Annahme gerechtfertigt ist, dass es sich um ehemalige Wohnräume handelt. Die sichtbare Balken aufweisende Decke ist mit Stuckprofilen geschmückt. In dem nach Norden gerichteten Flügel des Herrenhauses sind übereinander zwei Festsäle angeordnet. In dem des ersten Obergeschosses ruht die Balkendecke auf einem starken Unterzuge, der mit Brettern verkleidet ist, auf denen noch alte Malereien erkennbar sind. Am Ende des Gebäudeflügels liegt ein mit dem Hauptsaale verbundener Schenkraum. Die tiefen Fenstergewände des Inneren sind in architektonischer Hinsicht sorgfältig durchgebildet. Die mit Schnitzereien und Einlagen versehenen Türen sind Schaustücke ersten Ranges. Die Beschläge stellen eine kunstvolle Schmiedearbeit dar.
Der Saal des Obergeschosses ist ähnlich, wenn auch einfacher gehalten. In den Türen sind laubsägeartige Muster ausgegründet. Unter dem heutigen Anstriche finden sich noch die ursprünglichen roten und gelben Farben.
Bei der vor etwa fünf Jahren vorgenommenen Erneuerung des Gebäudes wurde eine aufgefundene Ofenplatte auf der Diele des zweiten Stockwerks eingemauert. Es war auch eine durchgreifende Wiederherstellung des Innern geplant, von der jedoch der hohen Kosten halber Abstand genommen wurde.
Heinrich Lücke
(in: Burgen, Schlösser und Herrensitze im Gebiete der unteren Werra. Heft 4. Parensen: Lücke, 1925)