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Einblicke in die jüngere Entwicklung von Altenstein, Greifenstein, Hessel und Keudelstein im Bereich der ehemaligen innerdeutschen Grenze
Von Dr. Thomas Wölker
Vorbemerkungen:
Von Nordwesten nach Südosten gesehen waren sie in den älteren topographischen Karten wie Perlen an einer Schnur aufgereiht: das Forsthaus Altenstein sowie die Guts- bzw. Forstbetriebe Hessel, Goburg, Greifenstein und Keudelstein im Grenzabschnitt der ehemaligen DDR zwischen Bad Sooden-Allendorf und Eschwege. Heute ist der frühere Sperrbezirk wieder frei zugänglich. Die genannten Betriebe sind jedoch verschwunden. Nur an den heute bewaldeten Standorten von Altenstein und Goburg können noch Trümmer gefunden werden. Hessel, Greifenstein und Keudelstein hat man wegen der landwirtschaftlichen Nutzung der vormaligen Siedlungsplätze vollständig beseitigt. Es sind kaum noch Spuren vorhanden.
Ursache der Zerstörungen waren Sicherungsmaßnahmen der DDR an der ehemaligen „Staatsgrenze West" seit Beginn der sechziger Jahre. Der Niedergang der intakten staatlichen und privaten Wirtschaftseinheiten hatte jedoch bereits 1945 im Zusammenhang mit der Enteignung und der Bodenreform begonnen. Die vorliegende Untersuchung kann und soll keine Chronik der Ereignisse seit diesem Zeitpunkt liefern. Vielmehr geht es um Ausschnitte der Gesamtentwicklung, die Einblick geben in die damalige Politik mit ihren Folgen für Mensch und Kulturlandschaft. In ihren Grundzügen ist die Geschichte dieser Fallbeispiele möglicherweise auch auf andere Bereiche der ehemaligen innerdeutschen Grenze übertragbar. Die gesetzten Akzente orientieren sich an den Quellen der heute wieder zugänglichen Archive und einige dem Verfasser übermittelten schriftlichen und mündlichen Informationen durch die Bevölkerung der angrenzenden Ortschaften. Ãœber die Goburg wurde an anderer Stelle in dieser Zeitschrift berichtet.1 Der folgende Beitrag behandelt daher nur die anderen genannten Betriebe.
Ausgangslage:
Die seit dem Mittelalter aufkommenden Namensgrundworte „-stein" und „-bürg" deuten darauf hin, dass die späteren Guts- und Forstbetriebe an der Stelle von älteren befestigten Sitzen des lokalen Adels errichtet wurden. Bei Altenstein und Greifenstein zeugen davon noch heute Burgruinen. Auch auf der Keudelskuppe, nahe dem ehemaligen Gut, wurden zu Beginn unseres Jahrhunderts die Ãœberreste einer mittelalterlichen Burganlage lokalisiert und freigelegt.2
Das Alter der 1945 bestehenden Bausubstanz war unterschiedlich. Das vermutlich älteste Gebäude von Gut Hessel stammte, einer dort eingemeißelten Jahreszahl zufolge, aus dem Jahre 1579.3 Mit Stilelementen der Renaissance angelegt wurde das Wohnhaus von Keudelstein vermutlich 1669 oder etwas früher.4 Die Gebäude von Forsthaus Altenstein und Gut sowie Forsthaus Greifenstein sind jünger, man hat sie im 18. oder auch erst im 19. Jahrhundert errichtet. Bis 1945 wurden in allen Fällen Aus-, Um- und Neubauten vorgenommen, das bezog sich insbesondere auf die Wirtschaftsgebäude. Zumindest den Wohnhäusern der Betriebe gemeinsam war jedoch die Kombination von massiver Steinbauweise mit aufgesetztem Fachwerk.
Die Eigentumsverhältnisse hatten sich im Laufe der Geschichte mehrfach verändert. Lediglich der Forstbetrieb Altenstein war seit 1753 kontinuierlich in hessischem Besitz.5 Die Ursprünge von Gut Keudelstein gehen zwar auf das aus Schwebda stammende Geschlecht derer von Keudell zurück, der Betrieb durchlief jedoch seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verschiedene Hände und konnte erst 1901 durch Alexander von Keudell, damals Landrat des Kreises Eschwege, zurückerworben werden.6 Greifenstein, ursprünglich als preußische Dmäne angelegt, kam erst 1914 in seinen Besitz.7 Von Interesse und überregionaler Bedeutung in der Geschichte von Gut Hessel ist ein Eigentümer während des Ersten Weltkrieges: Bethmann-Hollweg, ein Vetter des gleichnamigen Reichskanzlers, war damals Betriebsinhaber. Nur aus diesem Zusammenhang heraus ist auch zu verstehen, dass die Kinder des damaligen Kronprinzen Wilhelm, des ältesten Sohnes des letzten deutschen Kaisers, während der revolutionären Unruhen im Winter 1918/19 längere Zeit aus Sicherheitsgründen an diesem Ort untergebracht waren.8 „Alternativ" im Vergleich zu den letzten rechtmäßigen Eigentümern der anderen Betriebe - von Keudell und die Hessische Forstverwaltung - verhielt sich Martin Schmidt aus Kassel, der Gut Hessel 1936 erwarb und seit 1938 selbst bewirtschaftete: Ausgelöst durch eine Begegnung mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner im Jahre 1924 verwirklichte er bis 1945 die mit dem Namen „Demeter" verbundene biologisch-dynamische Anbaumethode unter stetiger Weiterentwicklung.9
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs traf alle Betriebsinhaber das gleiche Schicksal: sie wurden enteignet, da die Gesamtfläche ihres Eigentums - mit Ausnahme von Greifenstein - jeweils mehr als 100 Hektar umfasste. Obwohl der Altenstein sich bereits lange vor dem Krieg in staatlichen Händen befunden hatte, eine Enteignung im engeren Sinne also gar nicht stattfinden konnte, führten die politischen Veränderungen auch dort zu einer Zäsur. Förster Borkenhagen, seit 1931 Inhaber dieser staatlichen Forststelle, sollte 1946 ohne Hab und Gut vertrieben werden. Man warf ihm die vormalige Mitgliedschaft in der NSDAP vor.10 Zu einer möglichen Flucht zu Familienangehörigen ins hessische Hitzelrode kam es jedoch nicht mehr. Borkenhagen wurde am 15. Januar 1946 in seinem Forsthaus von ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern erschossen. Dem Mord lagen möglicherweise vorausgegangene persönliche Differenzen zugrunde11, die hier nicht zu erörtern sind.
Keudelstein
Über die Entwicklung des ehemaligen Gutes Keudelstein nach 1945 - es lag zwischen Döringsdorf und Lengenfeld unterm Stein - sind den eingesehenen Quellen kaum Informationen zu entnehmen. Sie wird in den Grundzügen - Enteignung, Bodenreform, Kollektivierung, Nutzung durch eine LPG und Abriss als Grenzsicherungsmaßnahme - kaum anders verlaufen sein als bei den Fallbeispielen Greifenstein und Hessel. Immerhin lassen die Quellen einen Einblick in die Vorgänge der Abbrucharbeiten zu, die vermutlich auf andere Objekte übertragbar sind.
Bereits 1964 hatte der Rat des Kreises Heiligenstadt aus den bereits bekannten Gründen beschlossen, die Gebäude von Keudelstein zu beseitigen.25 Die Siedlung muss also Mitte der sechziger Jahre vermutlich schon verlassen gewesen sein. Die Wirtschaftsflächen waren zunächst von der VEG Großtöpfer, anschließend der LPG Hildebrandshausen genutzt worden. Umgesetzt wurde das Abbruchvorhaben in der Zeit vom 2. Januar bis 31. März 1965.26 Der Rat des Kreises, Kreisbauamt, beauftragte damit den VEB Baureparaturen, Heiligenstadt. Betroffen waren das Forstgehöft Keudelstein, zwei LPG-Hauswirtschaften mit Nebengebäuden sowie das ehemalige Herrenhaus Keudelstein mit Lagergebäuden. Der Auftrag umfasste den "fachgerechten Abtrag, die Säuberung der noch verwendbaren Materialien und das ordnungsgemäße Einplanieren der Abbruchstelle". Neben der Kostenkalkulation für die durchzuführenden Arbeiten hatte man sehr genau den Wert der wiederverwendbaren Materialien ermittelt. Da es an Baustoffen in der ehemaligen DDR oft mangelte, man auf diese Art das "Recyclings" also angewiesen war, wurden zur Wiederverwendung angeführt: Ziegelsteine, Dachziegel, T-Träger aus Stahl, Bauholz, Weidepfähle(!), Brennholz, Schalungsmaterial, Zimmertüren, Fenster, Blechtafeln und Bruchsteine. Man veranschlagte für diese nach Stückzahl, Quadrat- und Kubikmeter bemessenen Materialien einen Betrag von 9930,- Mark. Der auch kunsthistorisch bedeutende Keudelstein ist heute verschwunden. Vielleicht ist der Gedanke tröstend, dass ein Teil der Ausstattung möglicherweise in oder an anderen Gebäuden des Eichsfelder Raumes „fortlebt". Das gilt mit Sicherheit für die beiden Steinfiguren links und rechts des ehemaligen Hauptportals im Stil der Renaissance, die Waage und Schwert als Sinnbilder der richterlichen Gewalt in ihren Händen hielten. In der damals angefertigten Inventarliste hatte man sie interessanterweise nicht angeführt. Sie wurden vor dem Abriss von der Hauswand abgeschlagen, auf einem Sockel zusammengestellt und sind heute auf einer Grünfläche neben der Marienkirche im Zentrum von Heiligenstadt zu besichtigen.27 Man merkt beim Betrachten aber, dass es sich um Fremdkörper an diesem Ort handelt; ein wenig komisch wirken sie schon.
Anmerkungen:
1 Wölker, Thomas: Das Schicksal der Goburg. In: Das Werraland, 1992, H.2, S. 30 bis 32.
2 Historische Kommission für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt (Hrsg.): Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen. Halle, 1909, S. 246.
3 Schriftl. Aufzeichnung des letzten Betriebsinhabers vor 1945.
4 Heuckeroth, Erwin: Eintausendzweihunden: Jahre Schwebda. Eschwege, 1986, S. 55 f.
5 König, York-Egbert, und Karl Kollmann: Die Orte um den Ahenstein - 45 Jahre thüringisch. In: Eichsfelder Heimathefte, 1990, H.2, S. 126.
6 Heuckeroth, 1986, S. 56.
7 Ebda., S. 147.
8 Schriftliche Information durch einen Bewohner von Wiesenfeld.
9 Schriftliche Information, Eberhard Schmidt, Kassel.
10 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand Kreisrat des Landkreises Worbis, Nr. 644: Bodenreform Gemeinde Asbach, Schreiben der Dorfkommission an den Landrat vom 13. 1. 1946,
11 Schriftliche und mündliche Information durch eine Bewohnerin von Weidenbach.
12 Beispielsweise bat der Nachfolger Borkenhagens, Friedrich Walloschek, nun auf Selbstversorgung angewiesen, um die Erlaubnis zur Tierhaltung auf dem Altenstein und die entsprechende Zuweisung von Groß- und Kleinvieh; Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand: Kreisrat des Landkreises Worbis, Nr. 644, Schreiben an den Landrat vom 7. 8. 1946.
13 Kreisarchiv Heiligenstadt, Nr. 723, Bd. 1: Ratsbericht über die Einschätzung der Arbeiten der Gemeinden im 500-m-Schutzstreifen, 25. 3. 1966.
14 Kreisarchiv Heiligenstadt, Nr. 732: Informationsberichte über Probleme des Schutzes der Staatsgrenze West, 25. 5. 1967.
15 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand: Kreisrat des Landkreises Worbis 1945 bis 1952, Schreiben des Neusiedlers Bauer an die Kreiskommission, zur Durchführung der Bodenreform vom 17. 7. 1947. 16 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand: Kreisrat des Landkreises Worbis 1945 bis 1952, Kreisbodenkommission, Akte 620, Schreiben vom 3. 10. 1945.
17 Ebda., Schreiben vom 15. 10, 1945.
18 Ebda., Bericht vom 16. 12. 1945.
19 Alle Angaben aus dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand: Kreisrat des Landkreises Worbis 1945 bis 1952, Kreisbodenkommission, Akte 620: Bodenreform Gemeinde Kella.
20 Ebda., Schreiben der Geschäftsstelle vom 23.2. 1946.
21 Kreisarchiv Heiligenstadt, Bestand: Rat des Kreises, Abt. Innere Angelegenheiten, Akte 723: Staatsgrenze West, Bd. 3, Bericht vom 6. 12. 1966.
22 Ebda., Akte 723, Bd. 7-
23 Wie auch die folgenden Informationen dem schriftlichen Bericht eines Bewohners von Wiesenfeld vom November 1991 entnommen.
24 Kreisarchiv Heiligenstadt, Bestand: Rat des Kreises, Abt. Inneres, Akte 723: Staatsgrenze West, Bd. 9, Protokoll vom 23, 4. 1969.
25 Kreisarchiv Heiligenstadt, Bestand: Rat des Kreises, Abt. Innere Angelegenheiten, Akte 723: Staatsgrenze West, Bd. l, Bericht vom 19. 3. 1964.
26 Wie auch die folgenden Informationen im Stadtarchiv Heiligenstadt, Registriernummer I 137: Protokolle über Abbruch und Wiederverwendung der Baumaterialien des Keudelstein vom 29. 3. 1965.
27 Schriftliche Information durch Herrn Heuckeroth, Schwebda.
Dr. Thomas Wölker
(Quelle: Einblicke in die jüngere Entwicklung von Altenstein, Greifenstein, Hessel und Keudelstein im Bereich der ehemaligen innerdeutschen Grenze. In: „Das Werraland“, (Heft 4/ Dezember 1992). Seite 81 bis 86.)