Zeittafeln
Sachtexte & Aufsätze- Carl Duval
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- Anton Fick
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- F. W. Mosebach (1)
- F. W. Mosebach (2)
Ein unbesungener Held
Eichsfelds groĂźer Kulturkampfpater Marzellus
W. H. Röhrig
Die nachfolgende Skizze bildet die Fortsetzung zu dem bereits erschienenen Artikel unter gleicher Überschrift. Ich habe Eichsfelds Gaue von Nord nach Sud durchstreift und mir Kunde geholt von den noch immer im Gedächtnis des Eichsfelder Volkes wach gebliebenen Erinnerungen an den Heldenpater. Besonderer Dank verpflichtet mich dem an Jahren so reich gesegneten Frl. E. K. aus D., der neunzigjährigen, noch jugendlichen Dame, die in den Kulturkampfjahren oft mit Pater Marzellus auf dem Keudelstein zusammen war.
Still und friedenreich, wie ein Vogel im Nest, träumt weltabgeschieden von der großen Heerstraße das Rittergut Keudelstein am Fuße der Keudelskuppe, der Lieblingsaufenthalt des unvergesslichen Bekennerbischofs Dr. Konrad Martin, dessen Wiege im angrenzenden Friedatale gestanden, und den innige Familienbande an den stillen Weltwinkel ketten.
Insbesondere durch die offene Hand, die die Gutsfamilie dem nahegelegenen Hülfensberg erzeigte, durch welch letztere Tat sie dem Bergkloster ein Wohltäter und treuer Freund ward, hatten sich unzerreißbare Freundschaftsbande zwischen den Insassen des Gutshofes und des Hülfensbergklosters anknüpft. Was Wunder, wenn Pater M. hier bei alten Bekannten Zuflucht vor seinen Verfolgern sucht und solche in liebenswürdiger Weise findet! Verkleidet hütet er auf den waldumkränzten Fluren die Schafe seines Schuhherrn, hört in Kornkaufen und auf verborgenen Baumstümpfen im nahen Wanfrieder Walde zu ihm Eilenden Beichte, hält im versteckten Keudelsteiner Kirchhofskapellchen und im einsamen Lorenzschen Gutshause in Döringsdorf heilige Messe, – war gekannt und geliebt von den Südeichsfeldern weit in der Runde. Den nichtsahnenden Fremden gegenüber war er der schaffensfrohe Sohn der Gutsherrin, die er in aller Offenheit mit dem liebkosenden Namen „Mutter“ anredete, und der, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, sich gern in kleinen Haus- und Gartenarbeiten betätigte. Eingeweihte aus Geismar und Umgegend wussten von feinem Versteck, suchten ihn gern auf. Verstohlen suchte er die Besuche zu erwidern; um dann wieder in Nacht und Nebel in sein Asyl zu gelangen. Immer war die religiöse Betätigung als Priester die Triebfeder seines Ausharrens auf heißem Boden, der rings von Verrat und Verfolgung umlauert war. –
Frühnebel liegen über dem Friedatal. Der Keudelsteiner Wald neigt sich im Morgengrauen stumm und schweigend. Da schleichen zwei verhüllte Frauengestalten über den einsamen Waldpfad. Im Selbstgespräch vertieft, messen sie vorsichtig ihre flüsternden Worte, damit kein Späher sie beobachte. Der Keudelsteiner Gutshof ist im Erwachen. Die Knechte sind bereits auf dem Wege zu der gewohnten Stallarbeit. Da treten die schweigenden Frauen in das Wohnhaus, an der Tür von der nimmermüden Gutsherrin empfangen. Den Finger an den stummen Mund gelegt, weist diese die Eintretenden treppauf in den wohlbekannten, geräumigen Saal. Sie treten ein. Dunkelheit umfängt sie; kein Laut ist hörbar. Den Anweisungen der Gutsfrau entsprechend, knien sie nieder, beichten, ohne den Beichtvater zu sehen und empfangen im Flüstertone aus unsichtbarem Mund die Absolution. An der Stimme erkennen sie Pater M., der hier im Finstern seinen Beichtstuhl aufgeschlagen hat. Wie die ersten Christen in dunklen Katakomben, so kommen sich die schüchternen Beichtkinder vor. Die gewaltige Größe der christlichen Heldenzeit zieht so recht lebendig an ihrem Auge vorüber, – sie fühlen sich glücklich, ihren Beichtvater gefunden zu haben.
Schweigend kehren sie zurück. An der Treppe steht auf Posten die „Mutter“, ängstlich der Kommenden harrend. Ein Knecht kommt polternd vom Hofe durch die Pforte. Er könnte zum Verräter werden. Schnell weist die Gutsherrin den scheuen Frauen ein Versteck in der dunklen Treppenremise, dort weilen sie, bis die Gefahr verzogen. Abschiednehmend und voll Dank gegen die liebenswürdige Gutsfrau eilen sie von hinnen, nicht zuletzt voll Dank gegen den heldenhaften Beichtvater, der unter den schwierigsten Verhältnissen feinen Beichtkindern die Möglichkeit verschaffte, Trost und Stärke in den trüben Verfolgungstagen des unseligen Kulturkampfes zu empfangen. – –
Dem wachsamen Pater war es nicht verschlossen geblieben, dass Späher hinter den Gutsmauern lauerten. Schnell entschlossen, schüttelte er den Staub von den Füßen und ging in ein „fremdes Land“. –
Nachtschatten breiteten sich auf Wald und Flur aus. Die zehnte Abendstunde ist angebrochen. Durch den Keudelsteiner Wald blitzt ab und zu ein Lichtschein auf. Leise Tritte sind hörbar; sonst tiefes Schweigen. Zwei Frauengestalten, die eine eine brennende Laterne unter dem weitfaltigen Kattunmantel verbergend, schreiten durch die kühle Abendluft. Ihr Weg führt durch Geismar, Großtöpfer, den steinigen Hohlweg hinan zum Greifenstein. Der Gutshof liegt im tiefsten Schlafe. Da schlagen die wachsamen Hunde an; Lichter blitzen im Hause an, und den um Einlass Begehrenden wird willkommend geöffnet. Unter befriedigendem Lächeln enthüllt sich die eine der Frauenspersonen als Pater M., der wohlverkleidet des unsicheren Keudelsteins entronnen, – die andere Weibsperson ist die aus Geismar gebürtige, treue Dienstmagd K. Sch., auf Keudelstein bedienstet, die gar oft zum rettenden Engel und Schützer dem fliehenden Pater geworden. Nach einem kräftigen Imbiss scheidet die mutige Magd und eilt noch in selbiger stockdunkler Nacht ihrer Schlafstätte nach Geismar zu. Unter fröhlichem Gedankenaustausch sitzen der Gutsherr und sein flüchtiger Gast noch einige Stunden im molligen Stübchen, bis wohlige Nachtruhe Einzug hält. Sicher und geborgen schläft Pater M. in treuer Hut. – –
Der nächste Morgen ist angebrochen. Der Gendarmerie-Wachtmeister, höheren Befehlen gehorchend, betritt in aller Herrgottsfrühe den noch schlummernden Keudelstein. Es gilt, den „ungehorsamen“ Priester, der den Staatsgesetzen nicht Folge leisten will, zu verhaften. Alle Durchsuchung ist vergebens. Doch es ist dem strengen Auge des Gesetzes hinterbracht worden, dass die Gutsfrau es gewagt, entgegen den Gesetzen dem steckbrieflich verfolgten Pater ein Pfund Butter verabreicht zu haben. Dafür soll sie büßen. Sie wird mit einer Geldbuße bestraft. Die Mission des Wachtmeisters war also nicht vergeblich gewesen. Wenn auch dem Scheine nach, hatte dieser doch seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Gern zahlt auch Frau Martin die Strafe wegen des Almosens; höher schlägt ihr Herz in dem Gedanken, dass ihr Schützling rechtzeitig geborgen. Wie hat sie auch aufmerksam all den interessanten „Reisebeschreibungen“ der treuen Dienstmagd gelauscht, die letztere am heutigen Morgen nach Besuch der Polizei zum Besten gibt! – –
Lange sollte sich indes Pater M. auf Greifensein nicht wohlfühlen. Schon wieder war Verrat auf dem Wege. Da scholl eines Abends die Kunde vom Flur nach dem „Amtszimmer“ des Flüchtlings: „Der Wachtmeister kommt!“ Eiligst verbirgt er sich im Stall, legt sich in die Pferdekrippe, wird vom Gutsherrn weich und sanft mit Heu und Stroh zugedeckt und wartet „feierlichst“ der Dinge, die da kommen sollten. Doch keiner entdeckte ihn. Nach kaum ein paar Tagen erneuter Alarm im Gutshause. Dunkelheit lag bereits über dem Schlossberge. Der Greifensteiner Wald reckte seine drohenden Äste in die rabenschwarze Nacht. An ein Verstecken war nicht mehr zu denken. Schnell entschlossen, entflieht er aus der Hintertür und läuft durch den schweigenden Garten, dem finsteren Walde zu. Büsche und Zweige schlagen ihm ins Gesicht; der Weg ist ihm entschwunden. Talabwärts fühlt er vorsichtig durch Dornen und Gestrüpp. Da – ein Schrei – ein Fall – der Flüchtling ist in einen Steinbruch gefallen. Aller Sinne beraubt, zerschunden an Händen und Füßen und Armen, so liegt der Hilflose einsam, verlassen in schauriger Nacht. Doch kurze Zeit nur verrinnt, – da kehrt die Besinnung zurück. Eile hämmert in feinen fiebernden Gliedern. Mühsam, mit blutenden Wunden und hinkend macht er sich auf. Er erreicht die Frieda, wo er sich von Blut und Schmutz reinigen kann. Beim Übersetzen über den schmalen Steg fehlt jedoch sein ermatteter, schmerzender Fuß; er stürzt ins kalte Wasser und rettet nur notdürftig sein nacktes Leben. Vollständig durchnässt, am ganzen Leibe zitternd, aus vielen Wunden blutend, – – so zieht er auf geheimen Pfaden nach dem ihm vielleicht noch einmal rettungsbringenden Keudelstein. Wie ist er da beglückwünscht worden! Wie haben seine Getreuen ihm die Wunden verbunden und stärkenden Wein als Labsal gereicht! – –
Kurze Zeit war verstrichen. Der Tod des großen Bekennerbischofs Dr. K. Martin war mit lebhafter Anteilnahme bei all seinen Eichsfelder Landsleuten begangen worden. Wochen waren seitdem verflossen. Des hohen Bischofs Hinterlassenschaften rollten der Heimat entgegen. Auf dem Eschweger Bahnhofe harrten sie der Ausladung. Keudelsteiner Fuhrwerke waren schon seit frühem Morgen unterwegs. Der Abend brach bereits an und noch meldeten keine Anzeichen ihre Wiederkehr. Rasch entschlossen, nahm Pater M. die Stalllaterne und ging in dunkler Nacht durch Wald und Wiese den Knechten entgegen. Stunden waren dahingeeilt, indes sich die „Mutter“ mehr um den ausgesandten Boten bekümmerte als um die Fuhrknechte. Wie klopfte das Mutterherz, als um 10 Uhr abends noch nichts zu hören war! Da – endlich schlugen die Hunde im Hofe. Herein rollten die beladenen Wagen, und voran schritt in gutem Humor Pater M. im blauleinenen Fuhrmannskittel als Führer mit Laterne und Wanderstab. In diesem Aufzuge hätte ihn selbst kein Geheimpolizist erkannt! –
Wie das Fahnden nach dem Versteckten immer lebhafter wurde, in demselben Maße sank der Mut seiner Beichtkinder. Ängstlich hüteten sie den Keudelstein; doch der Heldenpater kannte nur ein Gebot: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen! In Erfüllung dieser Pflicht schauen wir ihn zu den Beichtkindern eilen, nicht das Risiko scheuend, erkannt zu werden. – –
Es ist in Geismar. Helle Mittagssonne liegt über den heute mal ausnahmsweise sauberen Straßen. An den Ecken und in den Hausfluren stehen Junge und Alte eifrig im Gespräch vertieft. Wahrscheinlich unterhalten sie sich von den ernsten Zeiten, vom Hülfensberge und seinen vertriebenen Patres. Ein altes Mütterchen höre ich gerade von Marzellus sprechen; welch rege Anteilnahme sie doch für den Verfolgten bekundet!? – Da biegt um die Straßenecke eine Frauengestalt, mit Eichsfelder Mantel bekleidet, das Kopftuch weit ins Gesicht gebogen. Wie gebeugt sie dahinschreitet, als ob schweres Leid sie bedrückte! Ihr Weg führt zur Meierei. Die Burschen des Dorfes stehen gestikulierend am Straßenrand, der eine raunt’s dem andern ins Ohr: „Är esses!“ („Er ist’s!“) Die Laute ersterben auf den Lippen der Jugend, Pater M. ist im Torbogen der Meierei verschwunden. Er hat es fertig gebracht, am hellen Tage seine Lieben zu besuchen, sie Beichte zu hören und die vielen, die von seiner Ankunft erfahren; allen hat er Trost gespendet und ist dann wieder in dunkler Nacht in sein freiwilliges Versteck zurückgepilgert. – –
Der Vigiltag eines großen Festes war herangekommen. Wiederum hatten sich einige Beichtkinder zu ihm gestohlen. Auch ein altes Mütterchen W. aus B. war zu ihm gekommen. Ihr Sohn, wegen tadelhaften Lebenswandels überall bekannt, wurde wegen Beichtens von M. an dessen Pfarrer verwiesen. Der Abgewiesene darob erbost, erstattete Anzeige, dass der eigenen Mutter von Pater M. Beichte gehört sei. Sie wird nach Heiligenstadt vor Gericht geladen. Da der Ankläger jedoch den Beichttag mit dem Tage des Kommunizierens verwechselt hatte, die Angeklagte also guten Gewissens beschwören konnte, dass sie an dem in der Anzeige genannten Tage nicht bei M. gebeichtet habe, so wurde der Prozess großzügig niedergeschlagen. – Der Ankläger ruhte jedoch nicht; er wollte seine Rache kühlen. Marzellus musste von Neuem fliehen, fand vorübergehend in Tieffurt gastliche Aufnahme (siehe erste Skizze!) und als auch hier der Eichsfelder Verräter nahte, zog er wieder vermummt neuen Abenteuern auf eichsfeldischem Boden entgegen. – –
Da rollt eines Tages ein Gefährt von der Kalteneberschen Klus in Richtung Heiligenstadt dem Stadtwalde zu. Es gehört dem bekannten Schützling vom Greifenstein, der M. als alten Bekannten liebgewonnen und ihm in den Verfolgungstagen ein Versteck gewiesen. Gemächlich schreitet das Rösslein die Landstraße dahin. Fußgänger ziehen des Weges. Wie erstaunt erkennt der Wagenführer unter den des Weges ziehenden Wanderern seinen lieben Pater M. Verkleidet kommt er von Heiligenstadt, unbeachtet zieht man an ihm vorüber. Das Freundesaug’ hat ihn doch gleich erkannt! Wie gern hätten sich beide die Hand gedrückt, wie gern einige Worte des Wiedersehens gewechselt! Doch stumm und wehmütigen Blickes gehen sie aneinander vorüber, den Gruß im Herzen sich sagend und all die Schwere der Zeit so recht lebendig empfindend. Klugheit entzog auch diesmal M. seinen Spähern und Verfolgern. – –
Ungefähr 3 Jahre voller Arbeit und Sorgen, reich an Verfolgungen und Entbehrungen, geliebt und gehütet von seinen Getreuen in stillen Verstecken, waren für Marzellus dahingegangen. Der erste Sturm des Kulturkampfes hatte sich ein wenig gelegt. Da hält es die Ordensleitung für angebracht, ihn aus seiner weltlichen Behausung und Umgebung abzurufen. Gern hätte er es erlebt, wieder den geliebten Hülfensberg beziehen zu können; doch es war anders bestimmt. Gehorsam folgte er dem Rufe des Provinzialats nach Dorsten. Heimweh nach dem geliebten Eichsfelde und körperlich gebrochen durch die Verfolgungen des Kulturkampfes haben ihm ein Jahr nach seinem Weggange vom Eichsfelde das Grab geschaufelt. Selig ist er im Herrn entschlafen, betrauert vom ganzen Konvent ob feines heiligmäßigen Lebens, beweint von seinen Getreuen im Eichsfelder Lande. –
Schlafe aus, edler Dulder und Held! Möge Gott dir lohnen, was du Eichsfelds Volk in schweren Kulturkampfjahren gewesen. Du hast ihm die Tröstungen der hl. Kirche gespendet, hast ausgeharrt auf sturmumtobten Posten. Gott wird dir gewiss die Krone des Lebens hinterlegt haben. Und wenn du heut’ herniederschaust aus Himmelshöhen zu dem geliebten Hülfensberge, so wisse mit Stolz und Verklärung, dass der hl. Berg im Schmucke und in der Obhut deiner Ordensbrüder erglänzt. Sei versichert, edler Held, dein Eichsfeld wird sich erheben an deinem Bekennermut. Gefestigt und glaubensstark wird es alle Stürme trotzig niederringen, stets dein Beispiel sich vor Augen haltend. Diese Stärke und diesen Heldenmut erflehe uns am Throne dessen, zu dem du gewürdigt wardst aufzuschauen durch deine still ertragenen Heldentaten! – –
Nachbemerkung: Die einzelnen Ereignisse sind nicht streng chronologisch geordnet, da durch die Fortsetzung sich neue Bilder in die erste Skizze einfügten. Da bei Bearbeitung des schon erschienenen Teiles an eine Fortsetzung nicht gedacht wurde, so find die einzelnen Begebenheiten nur skizziert wiedergegeben. Immerhin hat die Ermutigung zu dieser Arbeit ein einigermaßen abgeschlossenes Bild der Wirksamkeit des Paters Marzellus auf dem Eichsfelde gezeitigt, – wert, monographisch für fernste Zeiten zu dessen Ruhm und Ehre, aber auch zum Ansporn späteren Geschlechtern festgehalten zu werden.
W.H. Röhrig
(Quelle: „Eichsfelder Volksblatt“/„Mitteldeutsche Volkszeitung Eichsfeldia“, Nr. 292/293, 1925)